„Kannst du dich nicht mal ein bisschen mehr wie ein richtiges Mädchen benehmen?“ Den Satz habe ich früher ziemlich oft gehört. Schrammen und blaue Flecken vom vielen Rumtoben brachten meine Mutter regelmäßig um den Verstand. Denn so sehr ich es wollte, ich konnte dem Wunsch, dass sich ab und an einfach nur lieb und süß bin, nicht so wirklich entsprechen. Was ist denn das, ein richtiges Mädchen?

Die Frage habe ich mir häufig gestellt, und was mir so an Vorbildern präsentiert wurde, gefiel mir nicht. Schminken, Prinzessinnenkleider, Barbiepuppen, diese ganzen Klischee-Mädchendinge haben mich nur mäßig begeistert. Zu meinen Vorbildern gehörten Mädchen wie Pippi Langstrumpf, der Querkopf aus den Astrid-Lindgren-Geschichten. Sie war neugierig, traute sich vieles, was ich mich nicht traute, gab nicht viel auf das, was andere von ihr erwarteten. Und sie hat sich für die eingesetzt, die all das nicht konnten. Das hat mir gefallen. Es hat mir als Kind gezeigt, dass es egal ist, ob ich ein Mädchen oder ein Junge bin, dass ich alles erreichen kann.

Doch ganz so ist es nicht, richtig? Frauen, die heute als Vorbilder dargestellt werden, die erreichen, was sie sich vornehmen, geben immer 150 Prozent, bekommen Job, Familie, politisches Engagement und am besten noch ein Ehrenamt unter einen Hut. Sie sind die eierlegenden Wollmilchsäue der Moderne. Klar, wir haben politisch in den vergangenen 100 Jahren wirklich eine Menge erreicht. Seit 100 Jahren gibt es ein Frauenwahlrecht in der Bundesrepublik. In unserem Nachbarstaat, der Schweiz, hat das der letzte Kanton erst 1990 umgesetzt. Frauen dürfen selbst entscheiden, was sie lernen oder studieren. Sie müssen nicht mehr Vater und Ehemann um Erlaubnis fragen. Mütter, die ihre Kinder in eine Kindertagesstätte geben, werden nicht mehr als Rabenmütter geächtet. Wir haben eine Bundeskanzlerin in Deutschland, auch die EU-Ratspräsidentschaft ist nun weiblich besetzt, und über die urmännlichste Domäne der deutschen Politik – die Verteidigung – entscheidet  eine Frau.

Aber selbst Debatten wie #metoo haben noch nicht viel daran geändert, wie wir Frauen im Alltag unseren Mann stehen. Schon diese Phrase zeigt das Problem. Wollen wir etwas erreichen, sei es beruflich, sei es politisch, sei es im Ehrenamt, müssen wir männliche Rollenmodelle imitieren. Stark sein, die Stimme erheben, uns widersetzen können.

Doch nicht alle Frauen wollen so sein. Es gibt eben auch die, die voll darin aufgehen, sich für ihre Familie aufzuopfern. Und die, die dem Mädchenklischee voll entsprechen. Die Glitzer-und-Glamour-Girlies sind genauso richtige Mädchen wie alle, die diesem Selbstbild vehement widersprechen. Denn Gleichberechtigung bedeutet nicht, dass wir alle stark und herausragend sein müssen. Es bedeutet, dass jeder das sein darf, was sie oder er sein möchte. Jeder davon hat das Recht darauf, dieselben Chancen im Leben zu erhalten.

Das geht aber nur, wenn die Entscheider alle Perspektiven, alle Lebenswege kennen und bedenken. Ja, Mädchen brauchen tolle Vorbilder, die ihnen zeigen, was sie erreichen können. Vorbilder, die aber nicht nur selbst erfolgreich sind, sondern solche, die sich für die einsetzen, für die, die das nicht selbst können. Nicht jedes Mädchen kann eine Greta Thunberg sein.

Aber jede Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer kann ihre Position nutzen, um die Situation für alle anderen zu verbessern, statt den Status Quo zu erhalten. Diese erfolgreichen Frauen sind es, die sich dafür einsetzen könnten, dass typisch weiblich konnotierte Berufe, soziale Berufe, endlich mal die gleiche Anerkennung erhalten wie typisch männliche Jobs. Wer in diesen Bereichen tätig ist, macht nicht weniger für die Gesellschaft, als Manager, IT-Experten oder Politiker. Im Gegenteil. Doch meist gehen sie nach der gleichen Arbeitszeit mit weit weniger nach Hause. Frauen in Machtpositionen können dafür sorgen, dass eine Frau mit Vollzeitjob genügend Geld hat, damit sie nicht in die Altersarmut rutscht, ohne von einem Mann abhängig zu sein. Aber hier tut sich derzeit wenig. Es reicht nicht, Mädchen zu erzählen, dass sie auch in technischen Berufen brillieren können. Wir müssen dafür sorgen, dass jede ihre Stärken nutzen kann, ohne Angst vor der Zukunft zu haben.

Mädchen, und auch Jungs, brauchen Vorbilder, die zeigen, dass es richtig ist, sich für Chancengleichheit einzusetzen. Vorbilder wie Clara Zetkin, die sich schon 1910 für die Rechte der Frauen stark machte. Wie Elisabeth Selbert, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Grundgesetz verankerte. Wie Simone de Beauvoir, die auf die Rolle der Frau und wie sie entsteht aufmerksam machte. Anders als in deren Zeit haben wir heute ein weltweites Netz, dass es uns ermöglicht, diese Geschichten jedem zugänglich zu machen. Wir können uns vernetzen und füreinander einstehen. Denn sie tragen dazu bei, dass Frauen Vorbildfunktionen übernehmen, wie Malala Yousafzai, die jüngste Friedensnobelpreisträgerin, die sich für das Recht auf Bildung stark macht. Wie Emma Watson, die ihre Berühmtheit nutzt, um sich weltweit für andere einzusetzen. Wie Greta Thunberg. Sie verleihen denen, die nicht selbst für sich sprechen können, eine Stimme. Und wir müssen mit unserer Unterstützung dafür sorgen, dass diese Stimmen dort gehört werden, wo Entscheidungen fallen.