Geschlechterstereotype in der Kinder- und Jugendliteratur? Die Abenteuer von der Protagonistin Meggie aus dem Roman Tintenherz sind mir im Kopf geblieben. Als Kind war ich von dem Werk so begeistert gewesen, dass ich zu einer Lesung von der Autorin gegangen war. Doch auch die Figuren der Reihe Tintenherz  reproduzieren Geschlechterzuordnungen und geben Kindern stereotype Orientierungsmuster vor.

Cornelia Funke – Dieser Name ist kaum jemanden fremd! Sie ist eine deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin, deren Romane international erfolgreich sind. In ihrem Buch Tintenherz der Tetralogie (Tintenherz, Tintenblut, Tintentod und die Farbe der Rache) greift die Schriftstellerin die Thematik Familie auf. Hauptfiguren des ersten Bandes sind die Tochter Meggie und ihr Vater Mortimer, auch Mo genannt. Der Handlung liegt das Lüften eines Geheimnisses zugrunde: Meggie erfährt, dass ihre Mutter nicht auf einer Abenteuerreise verschollen, sondern durch die Vorlesergabe von Mo in einer Parallelwelt verschwunden ist. Im weiteren Handlungsverlauf bestehen Meggie und ihr Vater das Abenteuer gemeinsam.

Die Familiendarstellung in Cornelia Funkes Tintenherz

Die bürgerliche Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kind, existiert als hauptsächliche Familienform in den westlichen Ländern. Obwohl weitere Familienformen (etwa gleichgeschlechtliche Elternteile, Patchwork-Familien, Alleinerziehende etc.) zugenommen und an gesellschaftlicher Akzeptanz gewonnen haben, befinden sie sich noch in der Minderheit und werden oftmals als Alternative zur Norm angesehen. So sieht die Bewertung der Familienform auch in Tintenherz aus. In der Geschichte ist durch die zu Beginn aufgezeigte Ein-Elternfamilie, bestehend aus dem Vater Mo und der Tochter Meggie, das Potenzial vorhanden, die traditionelle Vorstellung der Familienform Mutter-Vater-Kind zu brechen. Mit fortschreiten der Handlung wird jedoch die Wiedervereinigung der Familie dargestellt. Am Ende des Buches kommt es nicht zu einem alleinerziehenden Vater, sondern zur Familienform bestehend aus Mo, Meggie und Resa. In dem Familienbild des Romans wird eine verschleierte Kernfamiliennorm vertreten. Dennoch weicht das Buch von bestehenden Familienbildern ab. Die Tochter wächst ohne Mutter auf. Von der Norm, dass Ein-Elternfamilien aus alleinerziehenden Müttern bestehen wird in der Geschichte abgewichen. Die traditionell an die Familie gestellten Normvorstellungen hinsichtlich der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern werden außer Kraft gesetzt. Es gelten in dem Roman nicht die traditionellen Lager der Erwachsenen gegen die Kinder, sondern Vater und Tochter weihen sich in ihre Geheimnisse ein und erleben das Abenteuer gemeinsam. Wird bei der Betrachtung des Werkes die Perspektive hinsichtlich der Geschlechterstereotype vorerst ausgeklammert, präsentiert sich in Tintenherz ein modernes Familienbild. Wird dieses Bild jedoch mit einer genderorientierten Perspektive zusammengebracht, zeigt sich, dass dies nur bedingt zutrifft.

Die Geschlechterdarstellung in Cornelia Funkes Tintenherz

Bei Betrachtung des Vaters und der Mutter wird deutlich, dass die Darstellung der Mutter durchdrungen ist von Stereotypen, während die Figur des Vaters die Reduktion auf die tradierte Vaterrolle überwindet und eine progressive Männlichkeit verkörpert.

Der Mutter werden lediglich Merkmale, die der traditionellen Vorstellung von Weiblichkeit zugeordnet werden können, zugeschrieben. Die Attribute Schönheit, Güte, Fürsorglichkeit und Hilfsbedürftigkeit stehen im Fokus ihrer Darstellung und sind laut Thomas Eckes, der sich mit Geschlechterstereotypen befasst, zentrale Bestandteile von weiblichen Stereotypen.

Stereotype bestimmen nach wie vor die Geschlechterverhältnisse und schränken sowohl den Mann als auch die Frau auf ein begrenztes Verhaltensrepertoire ein. Die Familie ist als ein Ort zu verstehen, an dem selbst folgenreiche Unterscheidungen von Geschlecht hervorgebracht werden. Es wird gelehrt, welche sozialen Rollen besser von Vätern und welche von Müttern besetzt werden sollten. Nach der Geburt eines Kindes gilt meist immer noch: Männer haben Familie, Frauen leben Familie. In dem Roman wird oftmals bei den Beschreibungen über Resa nicht ihr Name verwendet, sondern die Formulierungen „Meggies Mutter“ oder „ihre Mutter“. Resa wird damit stereotypisch auf ihre Rolle als Mutter reduziert und erscheint nicht als eigenständige Figur. Darüber hinaus wird immer wieder die Schönheit und blonden Haare der Mutter hervorgehoben, wodurch objektivierende Aussagen getroffen werden.

Der Vater steht im Widerspruch zu den Vorstellungen von hegemonialer Männlichkeit. Bei ihm wird ein Konzept von Väterlichkeit aufgezeigt, das einerseits traditionell weibliche Attribute enthält, auf der anderen Seite auch Wert auf den stereotypischen Mann legt. Die Attribute Fürsorglichkeit, Sanftmut und (Familien-)Liebe stehen im Fokus seiner Darstellung und sind laut Thomas Eckes zentrale Bestandteile von stereotypisch weiblichen Zuordnungen.

Das Merkmal der Familienorientierung steht bei Mo stark im Vordergrund. Doch auch die männliche Figur ist nicht frei von stereotypen Darstellungen. Männliche Figuren werden in Romanen nur selten über die Beschreibungen ihres Äußeren vorgestellt. Dies trifft auch auf die männliche Figur des Vaters zu. Über Mo erfährt die Leserschaft lediglich, dass er groß gebaut ist.

Geschlechterstereotype: passive Mütter, aktive Väter

Die stereotypen Leitbilder von passiven Müttern und aktiven Vätern werden in dem Roman reproduziert. Die Mutter verkörpert durchweg die Rolle der passiven verstummten Frau, die keinesfalls autonom handelt. Sie verkörpert das Bild der wartenden Frau, die durch den Ehemann beschützt bzw. gerettet wird. Daran anknüpfend wird auch das auftretende Bild der Mutter als Gefangene des privaten Raums reproduziert, während der Vater im öffentlichen Raum als Held auftritt. Die Eltern bedienen das Klischee von prinzipiellen Unterschiedlichkeiten und Ungleichwertigkeiten der Geschlechter. Erfolgversprechend ist, dass im Text entworfene Bild der Tochter, welche der traditionellen Vorstellung von Weiblichkeit eine klare Absage erteilt. Bei ihrer Darstellung stehen die Merkmale Mut, Selbstvertrauen, Autonomie sowie Aktivität im Fokus und wirken dem kulturell tradierten Konzept weiblicher Passivität und Emotionalität entgegen. Sie überwindet das klischeebehaftete Bild von männlichem Heldentum und weiblicher Passivität.

Cornelia Funke spielt in Tintenherz mit den Vorstellungen zum Familienbild, jedoch nutzt sie nur bedingt die Spielräume der Literatur, um stereotype Zuschreibungen aufzubrechen. Für die Überwindung von Geschlechterstereotypen ist es wichtig Kindern alternative Lebensweisen von Männern und Frauen bzw. Jungen und Mädchen in Geschichten aufzuzeigen, um die Individualisierung von Lebensformen jenseits von sozialen Geschlechtskonstruktionen zu fördern. Die Auswahl von Büchern für die eigenen Kinder, im Kindergarten sowie in Schulen ist sorgfältig zu treffen, da sie darüber entscheidet, welche Werte und Vorstellungen an die nächste Generation herangetragen bzw. ihr vorenthalten werden.

Von Olivia Stitt

* Wichtig zu kommentieren ist, dass in der Betrachtung das heteronormative Geschlechtermodell reproduziert wurde, da nur ein binäres Geschlechtersystem untersucht wurde. Es ist anzumerken, dass die Überzeugung, dass es nur zwei Geschlechter gibt, an dieser Stelle von der Verfasserin abgelehnt wird. Die Darstellung in Tintenherz bezieht sich jedoch ausschließlich auf eine binäre Geschlechterstruktur.